Wenn über die Leistungsfähigkeit von Schulsystemen diskutiert wird, stehen häufig der finanzielle Ressourceneinsatz, die Qualität der Bildungspläne oder Leistungstests und Vergleichsarbeiten im Mittelpunkt. Weit weniger sichtbar, aber empirisch mindestens ebenso bedeutsam ist etwas ganz anderes: die geteilte Überzeugung der Professionellen im System, gemeinsam tatsächlich etwas bewirken zu können. Diese sogenannte „kollektive Wirksamkeit“ – im Englischen „collective efficacy“ – ist so etwas wie der unterschätzte Motor eines lernenden Schulsystems: meist unsichtbar, aber entscheidend dafür, ob das System Kinder und Jugendliche wirklich besser fördert und unterstützt.

In der Forschung wird seit einigen Jahren deutlich, wie stark die kollektive Wirksamkeit der Lehrkräfte und des sie unterstützenden erweiterten Schulsystems mit dem Lernzuwachs von Schüler:innen zusammenhängt. Goddard, Hoy und Woolfolk Hoy konnten bereits im Jahr 2000 zeigen, dass sich Unterschiede zwischen Schulen im sprachlichen und mathematischen Lernzuwachs zu einem erheblichen Teil durch die kollektive Wirksamkeit der Lehrkräfte erklären lassen – selbst dann, wenn die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft und andere Faktoren berücksichtigt werden. Meta-Analysen zu „collective teacher efficacy“ berichten Effektstärken von deutlich über d = 1,0; in der aktuellen Visible-Learning-Synthese liegt der Wert bei rund d = 1,34 – damit gehört kollektive Wirksamkeit zu den wirksamsten nachgewiesenen Einflussgrößen auf schulisches Lernen.

Die zentrale Frage lautet daher: Wie lässt sich kollektive Wirksamkeit in einem Schulsystem entwickeln – nicht nur in einzelnen „Leuchtturm“-Schulen, sondern an jeder einzelnen Schule. Und das nicht nur am des Systems, sondern auch in seinem die Lehrkräfte unterstützenden „Backend“, also im Zusammenspiel von Schulleitungen, Schulaufsicht, Schulträgern, Landesinstituten, Ministerien und den nicht-staatlichen Playern, die Schulen unterstützen, wie Stiftungen und NGOs.

Was kollektive Wirksamkeit ist – und was nicht

Ausgangspunkt ist ein Konzept Albert Banduras: Selbstwirksamkeit beschreibt die Überzeugung einer Person, schwierige Aufgaben aus eigener Kraft bewältigen zu können. Übertragen auf Organisationen ist kollektive Wirksamkeit die geteilte Überzeugung einer Gruppe, gemeinsam die Bedingungen und Ergebnisse ihres Handelns substanziell verändern zu können.

Goddard und Kolleg:innen definieren „collective teacher efficacy“ als die gemeinsame Überzeugung eines Kollegiums, dass es gemeinsam und arbeitsteilig den Lernerfolg der Schüler:innen nachhaltig positiv beeinflussen kann. Damit ist kollektive Wirksamkeit deutlich mehr als eine „gute Stimmung im Lehrerzimmer“. Sie ist spezifisch auf professionelle Kernaufgaben ausgerichtet: Lernzuwachs, Chancengerechtigkeit, Wohlbefinden und Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen gemeinsam zu organisieren – also genau jene Metaziele zu erreichen, an denen sich lernende Schulsysteme ausrichten.

Kollektive Wirksamkeit speist sich aus gemeinsam interpretierten Daten, aus gemeinsam arbeitsteilig umgesetzten Maßnahmen der Schulentwicklung und aus dem Gefühl, dass niemand die komplexen Herausforderungen und Probleme heutiger Schulen alleine lösen muss. Ebenso wichtig ist die Abgrenzung gegenüber kollektiven Negativ-Spiralen: Es gibt auch eine trügerische Form von „Wir-Gefühl“, in der sich Lehrerkollegien in ritualisierter Klage einrichten („Bei diesen Rahmenbedingungen kann man nichts machen“). Kollektive Wirksamkeit im hier gemeinten Sinn ist das Gegenteil – sie verbindet eine nüchterne Analyse der Ausgangslage mit dem Vertrauen darauf, dass sich diese Lage durch gemeinsames Handeln konkret zum Besseren verändern lässt.

Restructuring ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Vorbedingung

Schulsysteme reagieren auf Transformationsdruck häufig zunächst mit strukturellen Veränderungen: zusätzliche Projekte und Programme, mehr Gremien, neue Regelungen. Nicht alles davon ist sinnvoll und nachhaltig. Was hilft, sind feste Zeiten für professionelle Zusammenarbeit – sie schaffen überhaupt erst die Zeitfenster und Räume für Kooperation. Sie sind aber keine hinreichende Bedingung für kollektive Wirksamkeit.

Im Gegensatz zu den Schulsystemen in Deutschland haben die leistungsstärksten der internationalen Schulsysteme, so zum Beispiel Kanada, Singapur und auch alle nordischen Länder in Europa, Kooperationszeiten längst strukturell verbindlich abgesichert: Lehrkräfte haben wöchentlich verlässliche Teamarbeitszeiten, in denen sie gemeinsam Daten analysieren und über Forschungsergebnisse sprechen, Unterricht planen und Förderkonzepte weiterentwickeln. Auch Schulleitungen in einer Region arbeiten regelmäßig alle vier Wochen einen halben Tag lang in regionalen „Clustern“ (Singapur) oder „Schulfamilien“ (Kanada) zusammen, in denen sie mit der Schulaufsicht datenbasiert an gemeinsamen Problemstellungen arbeiten – etwa an der Verbesserung der Lesekompetenz von Kindern an Grundschulen oder der psychosozialen Gesundheit der Lernenden in der Sekundarstufe.

Ein zentrales Strukturprinzip, das sich in vielen internationalen Beispielen zeigt, ist die vernetzte Autonomie: Die einzelnen Schulen erhalten deutlich größere Entscheidungsspielräume und auch eigene Budgets, sind aber systematisch und verbindlich in ein professionelles Netz mit anderen Schulen unter Leitung der Schulaufsicht eingebunden, in dem sie ihre Erfahrungen teilen und gemeinsam an übergeordneten strategischen Zielen arbeiten. Diese „vernetzte Autonomie“ schafft den Rahmen, in dem kollektive Wirksamkeit überhaupt entstehen kann: Lehrkräfte und Schulleitungen erleben, dass gute Entscheidungen vor Ort möglich sind und einen Unterschied für die Kinder und Jugendlichen machen – und dass diese Entscheidungen zugleich Teil eines größeren Ganzen sind: dem ethischen Auftrag, allen Kindern und Jugendlichen durch Bildung gute Lebenschancen und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

Doch so wichtig diese strukturellen Voraussetzungen sind: Sie garantieren noch keinen Kulturwandel. Ohne „Reculturing“, wie man in Kanada sagt, können auch vermeintlich zeitgemäße Strukturen zu leeren Ritualen verkommen: Man trifft sich im Modus von „Dienstbesprechungen“, tauscht Termine aus, arbeitet die Tagesordnung ab – aber die eigentliche Praxis bleibt unangetastet und ein kollektives Lernen findet nicht statt.

Reculturing: Kulturwandel als Träger kollektiver Wirksamkeit

Der kanadische Schulentwicklungsforscher Michael Fullan hat früh darauf hingewiesen, dass nachhaltige Schulentwicklung eben nicht nur eine Frage von „restructuring“, sondern gleichermaßen von „reculturing“ ist. Reculturing bedeutet die Veränderung von Werten, Haltungen und habituellen Routinen – also das, was in einem Schulsystem meist „unter der Wasseroberfläche“ liegt und nicht offen und ehrlich besprochen wird. In lernenden Schulsystemen umfasst dies insbesondere den zwischenmenschlichen Umgang der Professionellen untereinander, den Umgang mit „schwierigen“ Daten, mit Fehlern und mit der Verantwortung, die jeder alleine, aber eben auch alle gemeinsam dafür tragen, die Probleme zu lösen.

In der Logik des lernenden Schulsystems werden Daten nicht als Kontrollinstrument verstanden, sondern immer als Ausgangspunkt gemeinsamen Lernens. Dashboards, Vergleichsarbeiten und Screening-Ergebnisse erhalten erst dann produktive Wirkung, wenn sie in professionellen Dialogen gemeinsam interpretiert werden – und wenn diese Dialoge von einem No-Blame-Ethos geprägt sind. Nicht die Suche nach Schuldigen steht im Vordergrund, sondern die Frage: Was lernen wir gemeinsam aus diesen Daten und was machen wir jetzt gemeinsam anders, damit die Lage besser wird?

Reculturing bedeutet zudem, dass sich die Perspektive von „meinem Unterricht“ auf „unsere Schüler:innen“ verschiebt. Kooperative Professionalität – also eine systematisch organisierte, hochqualitative Zusammenarbeit von Lehrkräften und Schulleitungen – zielt darauf, Verantwortung für die Lern- und Lebenschancen aller Kinder und Jugendlichen an einer Schule zu übernehmen. Aus dieser geteilten Verantwortung erwächst kollektive Wirksamkeit: Wenn niemand mehr mit „seiner“ schwierigen Klasse alleine bleibt, sondern das Kollegium gemeinsam Diagnostik, Förderkonzepte und Unterrichtsentwicklung verantwortet, steigen sowohl die Handlungsmöglichkeiten als auch die Bereitschaft, anspruchsvolle Veränderungen zu wagen. Entscheidend für das Gelingen ist aber auch, dass das Backend des Schulsystems – also Schulaufsicht, Schulträger, Landesinstitute usw. – die Schulen ganz zielgerichtet und konsequent in ihrer Arbeit unterstützen.

Reculturing ist damit der Prozess, in dem kollektive Wirksamkeit überhaupt erst kulturell über die Ebenen des Schulsystems verankert wird. Ohne diese Veränderung der professionellen Kultur bleiben Strukturen wirkungsschwach – Kooperationszeiten werden zum Orga-Meeting, Daten zu Verwaltungsakten, Netzwerktreffen zu weiteren lästigen Pflichtterminen.

Professionelles Vertrauen als notwendiges Sozialkapital

Der Schlüssel zur Verbindung von Strukturen und Kultur ist professionelles Vertrauen. In lernenden Schulsystemen beschreibt professionelles Vertrauen die gemeinsame Überzeugung, dass Kolleg:innen, Schulleitungen und Schulaufsicht kompetent handeln, integer sind und die gemeinsamen Ziele ernst nehmen – gerade weil es um das Leben von Kindern und Jugendlichen geht und auch für die Gesellschaft sehr viel auf dem Spiel steht.

Vertrauen ist damit keine diffuse „Wohlfühlgröße“, sondern eine zentrale Komponente des Sozialkapitals eines Schulsystems. Professionelles Sozialkapital entsteht dort, wo stabile, auf Gegenseitigkeit und Verlässlichkeit beruhende Beziehungen dafür sorgen, dass Informationen fließen, Expertise geteilt und anspruchsvolle Veränderungen gemeinsam getragen werden. Studien zeigen, dass Schulen mit hohem Sozialkapital unter den Lehrkräften bessere Schülerleistungen erzielen – selbst dann, wenn das individuelle Humankapital der Lehrkräfte, also ihre Kompetenzen, durchschnittlich sind.

Bryk und Schneider haben für diesen Zusammenhang den Begriff des „relational trust“ geprägt: Vertrauensvolle Beziehungen zwischen Lehrkräften, Schulleitungen, Schulaufsichten sind ein zentraler Motor schulischer Verbesserung. Dieses professionelle Vertrauen senkt die Schwelle, über Probleme offen zu sprechen, erleichtert die gemeinsame Auswertung von Daten und erhöht die Bereitschaft, neue Wege zu gehen – also genau jene Bedingungen, unter denen kollektive Wirksamkeit wächst.

Die Entwicklung von Vertrauen braucht allerdings Zeit: Professionelles Vertrauen lässt sich nicht top-down verordnen, sondern muss über Zeit in vielen kleinen, konsistenten und positiven Erfahrungen aufgebaut werden. Für die Praxis heißt das: Lehrkräfte, Schulleitungen und Schulaufsichten brauchen verlässliche, wiederkehrende Formate der Zusammenarbeit, in denen Vertrautheit entstehen kann – etwa wöchentlich ko-konstruktiv zusammenarbeitende Teams an Schulen und regionale Schulfamilien, wie sie zum Beispiel im kanadischen Schulsystem fest verankert sind. In diesen Formaten werden eben nicht nur Informationen ausgetauscht, sondern es entwickelt sich über die Zeit eine Vertrautheit, ein geteiltes Verständnis von Qualität und das Gefühl gemeinsamer Verantwortung und wechselseitiger Unterstützung und Entlastung.

Führungshandeln für kollektive Wirksamkeit

Damit kollektive Wirksamkeit zur Ressource eines Schulsystems wird, braucht es ein unterstützendes Führungshandeln: Es geht dabei nicht um die heroische Einzelperformance einer charismatischen Schulleitung oder Schulaufsicht, sondern vielmehr um die Kunst, kollektive Lernprozesse zu initiieren und zu einer nachhaltigen Kultur zu stabilisieren. Diese „transformative Führung“ kombiniert drei Dimensionen: Sinn stiften, neue Strukturen gestalten und sukzessive die neue Kultur entwickeln. Erstens machen diese Führungskräfte deutlich, worauf sich kollektive Wirksamkeit richtet: auf Kompetenz- und Leistungsentwicklung, Chancengerechtigkeit, Persönlichkeitsentwicklung und Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen. Zweitens sorgen sie für verlässliche Strukturen, in denen Teams tatsächlich gemeinsam arbeiten können – etwa durch die Umgestaltung von Deputaten und die Einführung verbindlicher Teamzeiten. Drittens arbeiten sie aktiv an einer Vertrauenskultur: Sie gehen mit Daten transparent um, übernehmen Verantwortung für schwierige Entscheidungen und schützen ihre Kolleg:innen vor einem sanktionierenden Umgang mit Misserfolgen.

Andy Hargreaves und Michael O’Connor sprechen in diesem Zusammenhang von „collaborative professionalism“: Zusammenarbeit wird nicht dem Zufall überlassen, sondern bewusst so gestaltet, dass sie hohe professionelle Standards, gemeinsame Verantwortung und kollektive Wirksamkeit stärkt. Auf der Ebene der Schulaufsicht bedeutet dies, dass sie Lernprozesse gestaltet, in denen Schulleitungen ihre Daten, ihre Problemlagen offenlegen können, ohne sich exponiert zu fühlen.

Change Learning als Systemkompetenz

Change Learning zielt genau auf diese Schnittstelle von Struktur und Kultur: Es schafft Räume, in denen Schulen, Schulaufsicht und weitere Akteur:innen an konkreten Herausforderungen arbeiten, datengestützt experimentieren und ihre Erfahrungen systematisch teilen. Entscheidend ist dabei, dass das nicht als zusätzliche „Projektinsel“ neben dem Alltag läuft, sondern in die Routinen des Schulsystems eingebettet wird und diese transformativ verändert.

Wenn es gelingt, kollektive Wirksamkeit auch im Backend des Systems zu verankern, verändert sich die Logik von Schulentwicklung grundlegend. Change ist dann nicht mehr die Verordnung „von oben“ aus dem Ministerium oder der heroische Kraftakt einzelner Schulleitungen „von unten“, sondern das Ergebnis fortlaufender gemeinsamer Lernprozesse über alle Ebenen eines Schulsystems hinweg. Kollektive Wirksamkeit wird so zur zentralen Ressource eines lernenden Schulsystems – und damit zum entscheidenden Hebel, um die Lern- und Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen sichtbar und nachhaltig zu verbessern.

Literatur
Bandura, A. (1997). Self-efficacy: The exercise of control. New York, NY: W. H. Freeman.
Bryk, A. S., & Schneider, B. (2002). Trust in schools: A core resource for improvement. New York, NY: Russell Sage Foundation.
Fullan, M. (2007). The new meaning of educational change (4th ed.). New York, NY: Teachers College Press.
Goddard, R. D., Hoy, W. K., & Woolfolk Hoy, A. (2000). Collective teacher efficacy: Its meaning, measure, and impact on student achievement. American Educational Research Journal, 37(2), 479–507. https://doi.org/10.3102/00028312037002479
Hargreaves, A., & O’Connor, M. T. (2018). Collaborative professionalism: When teaching together means learning for all. Thousand Oaks, CA: Corwin.
Hattie, J. (2008). Visible learning: A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. London, England: Routledge.
Hattie, J. (2023). Visible learning: The sequel: A synthesis of over 2,100 meta-analyses relating to achievement. London, England: Routledge.
Sliwka, A., & Klopsch, B. (2024). Das lernende Schulsystem: Paradigmenwechsel in der Bildung. Weinheim, Germany: Beltz.